Mai 4, 2020

Es war einmal…

Es war einmal ein Dichter. Er war jung, intelligent und schön. Jedesmal, wenn er eine Frau liebte, schrieb er eine Liebesgeschichte, und noch bevor die Frau die Geschichte lesen konnte, liebte auch sie ihn.

Anfangs, als er noch jung war, schrieb er sehr wenige Liebesgeschichten, später schrieb er immer mehr. Eines Tages verliebte er sich in eine junge und sehr schöne Frau. Er setzte sich wie gewohnt an den Schreibtisch und überlegte, doch es fiel ihm keine Liebesgeschichte ein. Viele Tage und Wochen dachte er nach, spielte alle Möglichkeiten einer Liebesgeschichte durch, las seine alten Liebesgeschichten und die Liebesgeschichten anderer, er machte Spaziergänge, ging schwimmen, betrank sich und schlief sehr lange, kam dabei aber zu keiner einzigen, noch so unbedeutenden Idee für eine Liebesgeschichte, weshalb er allmählich Angst bekam, nie wieder eine Liebesgeschichte schreiben zu können. Wahrscheinlich, dachte er, nachdem er lange Zeit überlegt hatte, weshalb ihm keine  Geschichte einfallen wollte, wahrscheinlich liebte er diese Frau überhaupt nicht. Die Liebe zu dieser Frau war ein Hirngespinst, denn Liebe ohne eine Geschichte, das ging keinesfalls.

Er warf alle Entwürfe für seine Geschichte in den Abfalleimer und beschloss, die geliebte Frau zu vergessen. Die schöne Frau aber, die sehr klug war, liebte den Dichter auch ohne Geschichte; sie liebte ihn, wie sie zuvor keinen Mann geliebt hatte. lhr gefielen seine Augen und seine Art, mit ihr zu sprechen. Sie umwarb den Dichter, schickte ihm täglich Blumen, kochte ihm die besten Gerichte und verwöhnte ihn über alle Maßen, aber der Dichter wurde immer verzweifelter. Die schöne Frau verstand ihren Geliebten sehr gut. Sie versuchte ihm zunächst auszureden, dass er eine Geschichte schreiben müsse, aber jedes Mal, wenn sie es versuchte, wurde der Dichter wütend. Sie hatte Angst, er würde sie verlassen, denn welcher Mann hält es lange aus mit einer Frau, die er nicht liebt? Sie versuchte, ihm zu helfen und erfand Geschichten für ihren Geliebten. Jeden Abend erzählte sie ihm eine Geschichte, sie fühlte sich wie Scheherazade, doch ihre Geschichten wollte er nicht gelten lassen; sie klangen einfallslos und geradewegs banal. Die schöne Frau verstrickte ihren Geliebten daraufhin in Abenteuer und Gefahren, um seine Phantasie anzuspornen, und versuchte, ihn eifersüchtig zu machen. Er aber meisterte alles, ignorierte die Nebenbuhler und erfand viele neue Geschichten, jedoch keine einzige Liebesgeschichte.

Mit den Jahren – die schöne Frau hatte den Dichter geheiratet – gab er es auf, sich eine Liebesgeschichte zu überlegen, denn sie erwies sich als eine gute Ehefrau, die ihn über alle Maßen liebte. Und nachdem er es aufgegeben hatte, Liebesgeschichten zu schreiben, verfiel er darauf nachzudenken, warum ihm keine Liebesgeschichte einfallen wollte. Vielleicht lag es daran, dass er zu viele Geschichten geschrieben hatte. Vielleicht liebte er die Frau, ohne es zu bemerken. Vielleicht hatte Liebe gar nichts mit Geschichten zu tun.

RFH