Mai 10, 2020

Tonio Kröger

An diesem Abend nahm er ihr Bild mit fort, mit dem dicken, blonden Zopf, den länglich geschnittenen, lachenden, blauen Augen und dem zart angedeuteten Sattel von Sommersprossen über der Nase, konnte nicht einschlafen, weil er das Klingeln in ihrer Stimme hörte, versuchte leise, die Betonung nachzuahmen, mit der sie das gleichgültige Wort ausgesprochen hatte, und erschauterte dabei. Die Erfahrung lehrte ihn, daß dies die Liebe sei. Aber obgleich er wußte, daß die Liebe ihm viel Schmerz, Drangsal und Demütigungen bringen müsse, daß sie überdies den Frieden zerstöre und das Herz mit Melodien überfülle, ohne daß man Ruhe fand, eine Sache rund zu formen und in Gelassenheit etwas Gutes daraus zu schmieden, so nahm er sie doch mit Freude auf, überließ sich ihr ganz und pflegte sie mit den Kräften des Gemütes, denn er wußte, daß sie reich und lebendig mache, und er sehnte sich, reich und lebendig zu sein, statt in Gelassenheit etwas Gutes zu schmieden.

Aus: Tonio Kröger, Thomas Mann