Mai 13, 2020

Sprachbildung

Früher hat man immer gesagt, das Kind soll nur gut auf die Mama hören, dann lernt es auch so schön sprechen. Die Mama redet nämlich wie ein Wasserfall, sie wickelt Sätze um das Kind wie Windeln. Morgens, wenn das Kind wach wird, sagt die Mama nicht einfach guten Morgen, sondern erklärt dem Kind, was der Morgen so alles mit sich bringen wird. Und dass die Vögel singen – als ob das Kind das Geschrei nicht selbst schon im Ohr hätte, seit es draußen hell ist. Das Kind hört seine Mutter den ganzen Tag lang reden, aber die Worte der Mutter gehen bei dem Kind rein und raus wie der Apfel-Passionsfrucht-Brei. Es bleibt irgendwie nichts hängen, was dem Kind in seiner Sprachbildung weiter hülfe. Am Abend kommt endlich der Vater nach Hause. Der Vater redet weniger als die Mutter. Eigentlich redet er fast gar nicht, und siehe da: Das Kind horcht auf.

Wissenschaftler in Amerika haben jetzt herausgefunden, dass Kinder gar nicht durch die Logorrhö der Mütter ans Sprechen gebracht werden, sondern vielmehr durch der Väter sprachliche Sparsamkeit. Das liegt daran, dass die Väter im Gegensatz zu den Müttern wunderbar klare, gekonnt komponierte und fein ausbalancierte Sätze prägen. Während die Mütter das Kind gewissermaßen mit Sprache vollstopfen, wählen die Väter die Worte wie kostbare Früchte aus und legen sie dem lernbegierigen Kind einzeln auf die Zunge. Das Kind schmeckt die Worte und denkt – gescheit reden kann es ja noch nicht –, wenn ich groß bin, möchte ich auch so sprechen können wie Papa. Ich möchte mir, anders als Mama, die Worte einteilen können und begreifen lernen, was eine schöne Rede von wildem Weibergeschwätz unterscheidet. Und in seiner kleinkindlichen, naseweisen Klugtuerei ahmt das Kind jetzt schon einmal den männlichen und folglich kühl gefügten Satzbau des Vaters nach.

Für die Mütter gibt es künftig auf dem Feld der frühkindlichen Sprachprägung wohl nicht mehr allzu viel zu bestellen. Sie werden wie gehabt den Brei in die Mikrowelle schieben, die Windeln wechseln und den Kinderwagen durch die Parkanlagen jagen. Allerdings: Wer kann die Mütter daran hindern, bei all dem auch weiterhin nutzlos zu sprechen, zu erzählen und Fragen an die Kleinen zu richten? Niemand kann das, und die Kinder in ihren Kinderwagen machen erschöpft die Augen zu und wünschen so sehr, sie könnten auch ihre Ohren noch verschließen vor der Übermacht an ziellos verschleuderten Worten. Irgendwann aber schlafen sie ein und fangen an, vom Abend zu träumen. Am Abend kommt nämlich der Vater nach Hause. Er küsst die Mutter, er küsst das Kind. Die Mutter geht in die Küche. Der Vater geht ans Kinderbett und packt schweigend seinen schönen Satzbaukasten aus. Und siehe da: Das Kind horcht auf.