März 25, 2020

Fremdes Lächeln

Mich hält ein leises Lächeln gebannt. 
Es hing ganz licht und lose am Lippenrand 
Einer schönen Frau, die vorüberging.

Die fremde Frau war schön und schlank, 
Und fühlte ich gleich, es zielte ihr Gang in mein Leben. 
Und dies Lächeln, das ich in Glut und Scham 
Von ihren zartblassen Lippen nahm, 
Hat mir ein Schicksal gegeben.

Wie ist dies alles so wundersam, 
Das Lächeln, die Frau und mein sehnender Traum 
Versponnen zu törichten Tagen. 
Mein Herz verirrt sich in Frage und Gram, 
Woher dieses seltsame Lächeln kam, 
Und weiß ich doch kaum, 
Wieso mir das heimliche Wunder geschehn, 
Daß ich, erglutend in Glück und Scham, 
Ein Lächeln aus fremdem Leben nahm 
Und in das meine getragen.

Ich fühle nur: seit  
Ich das Lächeln der leisen Lippen getrunken, 
Ist die Ahnung einer Unendlichkeit 
In mein Leben gesunken. 
Meine Nächte leuchten nun still und lau 
Wie ein Sternengezelt 
In beruhigtem Blau. 
Und der zarte Traumglanz, der sie erhellt, 
Ist das Lächeln der Frau, 
Der viellieben Frau, 
Der schönen, an der ich vorüberging, 
Der fremden, von der ich ein Schicksal empfing.

Stefan Zweig
(* 28.11.1881, † 23.02.1942)