August 14, 2020

Das Brandzeichen

Das Brandzeichen Du fährst die kleine Straße entlang, die Musik dröhnt in deinem Kopf. In der Kurve lässt du die Reifen quietschen, du bist viel zu schnell. Aber es macht dir nichts aus, du kannst damit umgehen. Deine Augen könntest du schließen, jeder Muskel wüsste, was zu tun wäre. Du parkst, steigst aus. Die Luft ist warm und sanft, es riecht vertraut. Wenig nur, sehr wenig hat sich verändert. Manche Häuser sind neu verputzt, an der Ecke ist nun ein Solarium. Die Treppe zum Gemeindeamt ist neu, mit Feldsteinen gemauert, das Wartehäuschen ist nun aus Glas; ein Baum wurde gefällt. Er war alt, du erinnerst dich gut, wie du bei Sturm oft Angst hattest, er könnte brechen. Du bist da, im Hof erkennt dich der Hund. Verwunderlich, wie gut deren Gedächtnis ist. Er humpelt etwas mehr, als früher. Die Rasse wird nicht alt, es dürfte bald zu Ende sein. Wie sehr man an den Tieren hängt, und wie traurig es ist, dass sie den Menschen kein Leben lang begleiten können. Nun, alles ist endlich. Die Haustür wird geöffnet. Alles fühlt sich richtig an, aber du weißt, dass es falsch ist. Der Kaffee beginnt fad zu schmecken. Du erzählst, wie gut es dir geht, wie erfolgreich du bist, was du erreicht hast. Du gibst an mit deinem neuen Leben, mit den Erfahrungen, mit dem Geld. Du hörst dich sagen, dass du immer da bleiben möchtest, wo du jetzt bist. Du lachst über alte Geschichten, erzählst selbst welche. Du staunst, was aus allen geworden ist. Hier war es also. Hier hat sie es dir gesagt. Hier hat es begonnen und hier war es vorbei. Hier war so lang der Mittelpunkt deines Lebens. Hier ist alles vertraut. Hier hingen deine Fotos an der Wand, hier standen deine Bücher im Regal. Im Fenster hängt noch das geschliffene Stück Glas, das die Sonnenstrahlen bricht und in bunten Mustern in den Raum wirft. Hier hat sie dich zu dem gemacht, der du heute bist. Hier hat sie dir ihr Zeichen eingebrannt. Auf dem Rückweg fährst du an dem Baum vorbei, den du dir damals ausgesucht hattest. Schnell genug warst du, hattest dir Mut angetrunken, die Musik war so laut wie heute. Viel Überwindung hätte es dich nicht gekostet, aber du bist weiter gefahren. Im Rückspiegel siehst du die Allee. Die Narbe schmerzt, aber die Nacht ist gnädig.