Mai 1, 2020

Die Geschichte vom O

“Ich kann mich nicht natürlich erregen”, gestand der Dichter seiner Besucherin. Er schrieb Gedichte und Kurzprosa und wohnte im Parterre. In seinen Räumen war es zu jeder Jahreszeit kalt. Da er kaum Möbel besaß, konnte er sich frei durch die Wohnung bewegen und fror nur im Sitzen. Seine Gedichte, erzählte man, seien beim Hinundhergehen entstanden, und er verbarg sie hinter Tüchern. Aus Scham, wie er sagte. Die Wände aller Zimmer, sogar die des Bades, waren mit weißen Tüchern verhängt. So konnte niemand den genauen Umfang seines Schaffens angeben, nicht einmal er selbst.

Sich zu erregen, werde ja immer schwieriger, lenkte die unerwartete Besucherin ein und strich über eines der Tücher; sie fühlte die Wand. Die beiden gingen Arm in Arm durch die Räume, und jeder wusste dabei, dass die Vertrautheit bloß ein Spielchen war. Aber sie übten sich gerne darin. Als sie wieder in der Diele angelangt waren, löste sich der Dichter von ihr und fragte:

“Was hat sie denn zu mir geführt?”

“Es heißt, ihre Gedichte seien erlösend”, antwortete sie.

“Heißt es nicht, ich sei hohl?”

“Das hat mein Mann behauptet, aber ich glaube ihm nicht”, sagte sie lachend und ging auf die weit offene Schlafzimmertür zu. Im Türrahmen blieb sie stehen und forderte ihn auf, die mitgebrachte Champagnerflasche zu öffnen. Der Dichter machte sich an der Flasche zu schaffen. Sie beobachtete das Spiel seiner Finger. Er drehte sich von ihr weg. Plötzlich spürte er etwas Warmes im Nacken. Es war ihr Atem, und er fürchtete, sie würde ihn küssen. Dann lachte sie wieder und sagte:

“Wir müssen uns nun entscheiden.”

“Wofür?” fragte er.

“Mein Verlangen ist Verlangen nach Sprache. Ich will es in Worten. Ich bin gekommen um Gedichte aufzunehmen. Mein Mann verachtet die Phantasie, ich stelle sie über alles. Also erzählen wir uns was.”

“Ja, erzählen wir uns was”, sagte er und ließ den Korken knallen. Champagner lief ihm über die Hand.

“Man muss der Gelegenheit trotzen. Es lebe das Wort und die geistige Übung”, rief der Dichter und ließ das Glas fallen. Es fiel zu Boden, ein kleine Lache Champagner breitete sich aus.

Für ein paar Augenblicke war es still.

“Ich möchte die Wirkung ihrer Gedichte spüren und in mich aufnehmen”, flüsterte sie ihm zu.

Er griff sich ins Haar. Er sah ihr in die Augen und sagte, “Schwierig, denn ich trage meine Gedichte grundsätzlich nicht vor. Und zeige sie auch niemandem. Andererseits will ich nicht unbehilflich sein; nur wie kann ich helfen? Was kann ich tun? Wie können sie eines meiner Gedichte aufnehmen, ohne es zu lesen, ohne es zu hören? Schwierig.”

Sie formte aus ihrem herab hängendem Haar kleine Würste. Ihre Wangen begannen zu zittern. Sie unterdrückte ein Lachen, aber es gelang ihr nicht ganz. Und leise kichernd  fragte sie, auf welchem Weg eine Frau etwas aufnehmen könne.

“Mit den Augen”, sagte der Dichter “Und natürlich mit den Ohren, durch die Nase und durch den Mund, ja und durch eine Injektion”, ergänzte er schnell.

“Haben sie nicht etwas vergessen?” sagte sie, faltete ihre Hände im Nacken und lächelte ihm zu. Es war ein feines, fast gescheites Lächeln. Es war auch eine Aufforderung.

“Fühlen Sie sich unbehaglich?” flüsterte sie, “haben Sie etwa Angst?”

“Ich bin nur überrascht”, stotterte der Dichter.

“Und worüber?”

“Über ihre offenen Worte.”

“Aber warum? Es gibt nichts, was ich nicht in den Mund nehmen würde.”

“Und was bevorzugen sie?”

“Die Dinge der Liebe”, erwiderte sie, und dem Dichter trat der Schweiß auf die Stirn.

“Sie schwitzen ja”, sagte sie.

“Aber nein, ich schwitze nicht.”

Der Dichter griff sich an die Stirn. Er spürte ein paar Perlen und sofort wurden es mehr.

Über das ihr Gesicht ging wieder ein Lächeln.

“Ich habe das Verlangen, mehr über eine Kunst zu erfahren, die ich auf ungewöhnliche Weise in mich aufnehmen möchte und ich spreche mit Vergnügen darüber. Wer Literatur liebt, muss auch ihre Extreme zulassen können”, sagte sie und schob ihren engen Rock nach oben.

“Die Schwierigkeiten des Dichtens”, erklärte er, “zeigen sich rasch, sobald es darum geht, sich für ein erstes Wort zu entscheiden, ja für einen Anfangsbuchstaben, “damit hielt er inne. Seine Augen hingen an ihrer Wäsche. Sie streifte ganz langsam ihr Höschen über die Strümpfe nach unten, mal links ein Stück, mal rechts ein Stück. Sie lehnte sich an die Wand. Ein Anblick entstand. Er sprang ihm in die Augen, er war auch ein Zeichen: Es sprach nur für sich. Und das war zu viel.; es war so unerträglich, dass der Dichter darüber zu reden begann. “Was für herrliche Schenkel”, sagte er. “Und so schlank und glatt, und wahrscheinlich auch fest.”

“Ich warte auf das Gedicht”, sagte sie. Er ging langsam auf sie zu und hob sie hoch, die Absätze ihrer Stiefel kreuzten sich hinter seinem Rücken. Er beobachtete sie mit halbem Auge, sie verzog das Gesicht, kleine Krämpfe durchquerten sie, in Wellen von oben nach unten.
Sie fragte ihn nach dem Inhalt des Gedichtes.

“Der Inhalt? Sprache was sonst”, stöhnte er.

“Dann frage ich sie nach der Form.”

“Das Gedicht ist sehr kurz. Mein Kürzestes”

“Ein Einzeiler also?” fragte sie.

“Es ist nicht mal eine Zeile”

“Aber ein Wort?”

“Keine Silbe.”

“Buchstabe also”

Der Dichter sagte:

“O”.

Ihre Lippen gerieten in Bewegung, ihr Atem ging schneller. Und dann schloss sie die Augen, schwer atmend wiederholte sie

“O ,  O,  O”

und warf ihren Kopf hin und her, immer wieder das Gedicht aufsagend, und mit jedem Mal bebte ihr Körper, und die Wangen begannen zu glühen. Dann wurde aus dem” O” ein “A“.

Der Dichter zog sich zurück  und hielt sich das Kreuz. Dann gingen sie Arm in Arm durch die Räume und wie vorhin übten sie sich in der Vertrautheit. Als sie wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, löste er sich aus der leichten Umarmung und fragte noch einmal:

“Was hat sie zu mir geführt?”

“Ich war neugierig und wollte sehen, was sie dichten. Und hoffte, es seien keine schlechten Gedichte.”

“Es gibt gar keine Gedichte.” antwortete er.

“Und hinter den Tüchern?”

“Da ist nur die leere Wand.”

“Keine Gedichte?”

“Doch, eines. Und das ist jetzt auch weg”

sagte der Dichter und verabschiedete die Besucherin mit einem zarten Kuss auf die Stirn.

RFH 2005